Die Geschichte eines ungewöhnlichen Selbstversuchs
Im Kampf gegen krankhafte Eiweißablagerungen beginnt ein emeritierter Medizinprofessor täglich grünen Tee zu trinken – mit Erfolg, wie objektive Befunde zeigen. Ob es tatsächlich an der vermuteten Wirksubstanz im Tee liegt, werden klinische Tests zeigen müssen.
Der emeritierte Hämatologie-Professor Werner Hunstein hatte lange gezögert, bevor er seinen wissenschaftlichen Brief an „Blood“, die international bedeutendste hämatologische Zeitschrift, abschickte. Hunstein befürchtete, mit seinem Selbstversuch mit grünem Tee als esoterischer Spinner abgestempelt zu werden; er, der „harte Wissenschaftler“, wie er sich selber im Gespräch bezeichnet. „Viele meiner Kollegen haben mich ausgelacht“, erinnert er sich. Umso erleichterter war der 78-jährige ehemalige Direktor der medizinischen Poliklinik an der Universität Heidelberg, als ihm der Chefredaktor von „Blood“ im Mai mitteilte, sein Beitrag werde erscheinen. Dies ist nun vor kurzem geschehen.
Falsch gefaltete Moleküle
Hunstein leidet seit 2001 unter „systemischer Amyloidose“. Bei dieser seltenen Erkrankung, die 1859 erstmals in Heidelberg beschrieben wurde, lagern sich falsch gefaltete Eiweißmoleküle als Klumpen („Amyloid“) in den Organen ab. Dies führt im betroffenen Organ zu Funktionseinbußen. Beim Heidelberger Professor sind insbesondere das Herz und die Nieren befallen. Ursachen für die Eiweißablagerungen gibt es viele. Bei Hunsteins Form der Amyloidose, einer leukämieähnlichen Erkrankung, ist es ein unkontrolliertes Wachstum von bestimmten Blutzellen (Plasmazellen). Da diese Zellen in ihrer Funktion gestört sind, produzieren sie nicht wie normal Antikörper, sondern die beschriebenen krankhaften Eiweiße („Leichtketten“).
Als beste Behandlung gegen diese Amyloidose-Form gilt derzeit eine hochdosierte Chemotherapie mit anschließender Transplantation (zuvor entnommener) eigener Blutstammzellen. Damit sollen die entarteten Plasmazellen eliminiert und durch gesunde Zellen ersetzt werden. Dass Hunstein, dessen Team 1985 angeblich die erste erfolgreiche Transplantation von patienteneigenen Stammzellen aus dem Blut durchführte, für diese Therapie nicht in Frage kam, hing mit seinem hohen Alter zusammen. Zudem ist die aggressive Therapie nur bei Patienten sinnvoll, deren Organe noch nicht allzu stark durch die Eiweißablagerungen geschädigt sind. Andernfalls ist das Risiko, an der Behandlung zu sterben, unverhältnismäßig hoch.
Hunstein ließ bei sich eine konventionelle Chemotherapie durchführen. Diese habe die Krankheit zwar „stabilisiert“, sagt er, doch die Nebenwirkungen seien immens gewesen – ein „Höllentrip“. Niemals würde er diese Prozedur wiederholen. „In dieser Zeit war ich ein Wrack und habe nur noch auf den Tod gewartet“, erzählt er rückblickend. Wegen der Amyloid-Einlagerungen in der Zunge habe er auch kaum mehr sprechen können, und die Herzschwäche habe ihm beim Spazieren zunehmend zugesetzt.
Dass er heute „wieder munter wie ein Fisch“ ist, wieder normal sprechen kann und auch sonst „wieder der Alte“ sei, das führt Hunstein auf grünen Tee zurück. Denn seit er im vergangenen September mit der belastenden Chemotherapie aufgehört hat, trinkt er täglich eineinhalb bis zwei Liter davon. Die Zubereitung erfolgt nach einem standardisierten Verfahren. Dieses sieht pro Liter drei gehäufte Teelöffel eines pestizidfreien Tees vor, kalziumarmes Wasser, das beim Aufgießen zwischen 60 und 80 Grad Celsius warm sein sollte, und eine Einwirkzeit von drei bis fünf Minuten.
Die damit erzielten Resultate seien unglaublich, schreibt Hunstein in seinem Bericht an „Blood“. So zeigten etwa regelmäßige Untersuchungen, dass die Amyloid-Ablagerung im Herzen Monat für Monat zurückgegangen sei und das Organ wieder an Schlagkraft gewonnen habe. Das bedeute aber nicht, dass er geheilt sei, betont Hunstein. Die krankhaften Plasmazellen seien immer noch da; was gestoppt sei, sei lediglich der Prozess der Proteinablagerung.
„Noch kein Durchbruch“
Auf den grünen Tee aufmerksam gemacht haben ihn zwei ehemalige Mitarbeiter. Sie hatten von Erich Wankers Arbeiten am Max Delbrück Center for Molecular Medicine in Berlin gehört. Wankers Forschergruppe untersucht seit längerem die Wirkung von Epigallocatechingallat (EGCG) auf die Amyloid-Bildung. Dabei konnte das Team nachweisen, dass dieses im Grüntee besonders reichlich vorhandene Polyphenol im Reagenzglas falsch gefaltete Eiweiße erkennt. Diese spielen außer bei der systemischen Amyloidose auch bei der Alzheimer- und der Parkinson-Krankheit eine wichtige Rolle. Wie Wanker erklärt, bindet EGCG an die pathologischen Proteine, was deren Verklumpung und damit deren Ablagerung verhindert. Es gebe zudem Hinweise, dass EGCG auch bereits gebildete Klumpen auflösen könne. Wie das funktioniere, sei allerdings noch nicht im Detail verstanden.
Wanker liegt viel daran, „den Ball tief zu halten“, wie er selber sagt. Es sei noch zu früh, von einem Durchbruch zu sprechen. Doch auch er ist von Hunsteins Selbstversuch überrascht und erfreut, zumal bei Grüntee, dem vielerlei gesundheitsfördernde Eigenschaften nachgesagt werden, kaum mit Nebenwirkungen zu rechnen sei. „Als Wissenschafter bin ich aber skeptisch“, sagt Wanker. Denn die Resultate einer Einzelfallstudie könnten auch durch Zufall oder andere, nicht bekannte Faktoren bedingt sein. Eine Spätfolge der Chemotherapie könne in seinem Fall hingegen ausgeschlossen werden, betont Hunstein.
Was es jetzt brauche, seien klinische Studien mit EGCG oder Grüntee, betonen beide Forscher. Die Chancen dafür stehen gut. So gibt es etwa am Amyloidose-Zentrum der Universität Pavia in Italien bereits entsprechende Pläne. Und an der amerikanischen Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, läuft eine Studie mit dem noch nicht als Arzneimittel zugelassenen EGCG bei einer speziellen Form der chronischen Leukämie. Längst wird Hunstein von seinen Berufskollegen auch nicht mehr wegen seiner ungewöhnlichen Grüntee-Behandlung ausgelacht.
Neue Zürcher Zeitung, 19. September 2007
http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/hilft-gruener-tee-gegen-krankhafte-eiweissablagerungen-1.557243