Werner Hunstein war jahrzehntelang ein knallharter Schulmediziner – bis bei ihm eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wurde. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Doch dann bekam er einen Tipp: Seitdem schwört der Professor auf Grünen Tee.
Kaffee – das war jahrzehntelang eine Passion von Werner Hunstein. Doch vor 14 Monaten stieg Hunstein, einer der führenden deutschen Hämatologen, auf Grünen Tee um. Mit gutem Grund: Der emeritierte Hochschulprofessor, der die Abteilung Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie an der Heidelberger Medizinischen Poliklinik aufgebaut und bis 1998 geleitet hat und an dessen Abteilung im Jahre 1983 die erste Transplantation von Blutstammzellen aus dem patienteneigenen Blut erfolgreich stattfand, leidet nun selbst an einer schweren Blutkrankheit.
Vor mehr als sechs Jahren wurde dem heute 79-Jährigen die Diagnose gestellt: Systemische Leichtketten-(AL)-Amyloidose. Diese leukämieähnliche Blutkrankheit wurde erstmals 1859 in Heidelberg beschrieben. Dabei produzieren krankhafte Blutzellen (Plasmazellen) ein bestimmtes Eiweiß, die sogenannten Leichtketten. Diese eigentlich für die Immunabwehr zuständigen Proteine werden vom Körper nicht abgebaut, sondern klumpen sich als unauflösliche Fäden, in der Fachsprache Amyloidfibrillen genannt, zusammen und lagern sich im Gewebe lebenswichtiger Organe, vor allem in Herz und Nieren ab. Sie können auch den Magen-Darm-Trakt, die Leber, Milz, das Nervensystem und die Weichteile befallen.
Die Organe werden dadurch verdickt, verhärtet und zunehmend in ihrer Funktion gestört. Mit lebensbedrohlichen Folgen. Etwa 20 verschiedene Amyloidosen sind inzwischen bekannt, je nachdem, welches Eiweiß die krankhaften Fäden bildet. Da sich die Erkrankung zunächst in allgemeinen Funktionsstörungen der befallenen Organe äußert, wird sie häufig erst erkannt, wenn sie bereits fortgeschritten ist.
Niemand dachte an eine Amyloidose
So war es auch bei dem Heidelberger Hämatologieprofessor, der nun seit fast zehn Jahren im Ruhestand ist. Er erfreute sich immer bester Gesundheit, und das Leben als „Patient“ war ihm unbekannt. Immerhin ging er zum jährlichen Gesundheits-Check. Als die Blutwerte plötzlich auffällig wurden, sich beim Ultraschall des Herzens Verdickungen zeigten, im Urin eine hohe Eiweißkonzentration auffiel und die Blutwerte auf eine Gerinnungsstörung hindeuteten, dachte niemand – auch er selbst nicht – an eine Amyloidose. Erst nach einer Ärzte-Odyssee über drei Jahre wurde die Diagnose schließlich mittels Gewebeuntersuchung eines Darmpolypen gestellt. Hunstein wusste, was diese Diagnose bedeutete. Als junger Pathologe in Berlin hatte er Organe an Amyloidose Verstorbener gesehen: „Ihre Leber und Milz waren steinhart.“
Inzwischen war Hunsteins Herz sehr schwach, er konnte nur noch wenige Meter am Stück gehen. Seine Zunge war verdickt und hinderte ihn am Sprechen, er hatte ständig Blutergüsse. Er unterzog sich einer Chemotherapie in Verbindung mit hohen Cortisongaben (Dexamethason) über mehr als ein Jahr. Dann empfahlen die Ärzte eine Therapiepause. Die heute empfohlene anschließende Blutstammzelltransplantation war für ihn nicht möglich. „Es war eine Leidenszeit“, erinnerte sich der Hämatologe. „Ich erlebte am eigenen Körper, wie es meinen Patienten ging, denen ich solch einschneidende Therapien zu verordnen hatte“: Geschmacksstörungen, Schlaflosigkeit, körperliche Schwäche, enormer Gewichtsverlust. Immerhin konnte die Krankheit durch diese Therapie eineinhalb Jahre lang stabilisiert werden, aber der erhoffte Durchbruch blieb aus. „Ich war im August letzten Jahres austherapiert und wartete nur noch auf den Tod“, erinnert sich Hunstein.
Dann kam die Wende
Zwei seiner ehemaligen Oberärzte gaben ihm einen Tipp, sie hatte in Berlin einen interessanten Vortrag gehört. Der Molekularmediziner Erich Wanker hatte dort am Max-Delbrück-Zentrum Untersuchungen im Reagenzglas vorgestellt, wonach mit einem bestimmten Inhaltsstoff des Grünen Tees – dem EpiGalloCatechinGallat (EGCG) – Amyloidablagerungen verhindert, ja sogar aufgelöst werden können. Hunstein sagt heute: „Ich hatte nichts zu verlieren, außer meinem Leben und dachte mir als Naturwissenschaftler‘ was im Reagenzglas klappt, könnte auch in meinem Körper funktionieren. Nebenwirkungen waren nicht zu befürchten.“
Fortan trank der Todkranke täglich eineinhalb bis zwei Liter Grünen Tee: Drei bis vier Teelöffel eines pestizidfreien Tees übergießt er mit einem Liter siedenden Wasser. So lösen sich die Wirksubstanzen besser, wie jüngst eine wissenschaftliche Arbeit zeigte. Dann drei bis fünf Minuten ziehen lassen – und fertig.
Die Wirkung verblüffte den „knallharten Schulmediziner“, wie sich Hunstein selbst lächelnd bezeichnet. Nach wenigen Wochen hatte sich sein subjektiv empfundener Zustand “ dramatisch verbessert“. Und auch objektiv ging es ihm besser: Die Herzscheidewand wurde langsam dünner, von Monat zu Monat millimeterweise von 16,5 Millimeter auf jetzt 12,1. Damit ist sie fast wieder normal dick. Das Herz wurde kleiner und belastungsfähiger. Auch die zunehmende Nierenschwäche konnte gestoppt werden: „Ich fühlte mich wie neugeboren“. Hunstein präsentiert sich heute als ein agiler, unternehmungslustiger Emeritus, der sich selbst ein wenig auf den Arm nimmt: „Der Schulmediziner par excellence trinkt Grünen Tee und wird wieder lebendig.“
Dennoch rang lange mit sich, ehe er sich entschloss, seinen Fall bei dem renommierten hämatologischen Fachblatt „Blood“ zur Veröffentlichung einzureichen. Als der ungewöhnliche Selbstversuch dort tatsächlich zur Publikation angenommen und im September erschienen ist, war er „der glücklichste Mensch auf der Welt“. Jetzt fordert er klinische Studien, um die im Selbstversuch erlebte Wirkung auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.
Wissenschaftliche Hinweise darauf, dass EGCG, das zu den gesundheitsfördernden Polyphenolen zählt, sich hemmend auf die Amyloidbildung auswirkt, mehren sich. Der Molekularbiologe Professor Erich Wanker vom Max-Delbrück-Zentrum in Berlin sagt, dass die Amyloidbildung auch bei anderen schweren Erkrankungen wie Chorea Huntington, Alzheimer,Parkinson und bestimmten Blutkrebsen wie beispielsweise Lymphomen eine große Rolle spiele. Für die Nervenkrankheit Chorea Huntington habe sein Team dies schon vor längerer Zeit gezeigt. Eine neue Arbeit belegt die amyloidhemmenden Wirkungen des EGCG eindeutig bei Parkinson und Alzheimer. Sie wurde jetzt bei einem hochrangigen Fachblatt zur Veröffentlichung eingereicht.
Patientenstudien sollen Wirkung belegen
Erich Wanker ist erfreut über Hunsteins Krankheitsverlauf. Als Wissenschaftler ist er auch wegen seiner überzeugenden Ergebnisse mit EGCG „voller Erwartung auf die Ergebnisse von zukünftigen Patientenstudien“. Gerade bei Amyloidosepatienten, wo man sicher sein könne, dass die Substanz auch im Körper ankomme, sollten schnellstens Studien mit dem Wirkstoff EGCG begonnen werden.
Am Amyloidosezentrum der Universität Pavia in Italien steht man offensichtlich schon in den Startlöchern, in der amerikanischen Mayo-Klinik wird das EGCG auf seine Wirkung bei einem bestimmten Blutkrebs bereits getestet. An der Hämatologischen Abteilung der Medizinischen Uniklinik in Heidelberg sei man schon seit längerem bemüht, eine klinische Studie mit EGCG beim Lymphdrüsenkrebs auf die Beine zu stellen, erklärte Hunstein-Nachfolger Anthony D. Ho. Auch für die Amyloidose wolle man eine Studie initiieren. Doch die Planung sei wegen der Finanzierung und des Arzneimittelrechts schwierig. Hunstein widerspricht: Grüner Tee beziehungsweise sein Wirkstoff EGCG sei kein Arzneimittel, da es sich um einen Nahrungsmittelzusatz handle und somit nicht dem Arzneimittelgesetz unterliege.
Ermutigt durch objektive Verbesserungen der Herzfunktion bei weiteren Amyloidosepatienten, die inzwischen täglich grünen Tee trinken, soll schon im Januar an der Kardiologischen Abteilung der Medizinischen Uniklinik Heidelberg eine klinische Studie starten. Die Patienten sollen nach Angaben des Kardiologen Derliz Mereles vorerst zusätzlich zur Standardtherapie wie die hochdosierte Chemo- und Blutstammzelltherapie den Wirkstoff EGCG erhalten. Der Kardiologe sieht gerade in Heidelberg gute Chancen, schneller zu klinischen Ergebnisse zu kommen, da am dortigen Amyloidosezentrum bundesweit an die 250 Patienten mit der seltenen Erkrankung behandelt werden. Hunsteins dringlicher Wunsch, diesen Wirkstoff auf seine klinische Bedeutung auch bei anderen Amyloidosepatienten schnellstens zu überprüfen, könnte vielleicht bald in Erfüllung gehen.
Die Welt, 16. Juli 2007
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